Mit einem weiteren Paukenschlag im turbulenten Bereich der Fluggastrechte urteilte der Europäische Gerichtshof am vergangenen Mittwoch, dass gemäß Montrealer Übereinkommen (MÜ) auch ein Arbeitgeber Schadenersatz von einer Fluglinie bei einer Flugverspätung seiner Mitarbeiter verlangen kann.Damit weitet das EU-Höchstgericht den Umfang von Schadenersatzverpflichtungen von Airlines erneut – potentiell erheblich – aus.
Zum Sachverhalt: Der Sonderermittlungsdienst der Republik Litauen (STT) buchte über ein Reisebüro Flugtickets für zwei seiner Mitarbeiter für eine Dienstreise. Der Flug hätte am 16. Januar 2011 von Vilnius über Riga und Moskau noch am selben Tag in Baku enden sollen. Zunächst hoben die zuletzt genannten Dienstnehmer planmäßig ab und kamen pünktlich in Riga an. Der Anschlussflug verspätete sich jedoch derart, dass diese nicht rechtzeitig in Moskau ankamen, um die letzte Etappe nach Baku anzutreten. Air Baltic buchte daraufhin die beiden Mitarbeiter auf einen Ersatzflug am Folgetag, was jedoch eine Verspätung von mehr als 14 Stunden zur Folge hatte. Der STT war sohin durch die Verlängerung der Geschäftsreise mit zusätzlichen Reisekosten und Sozialversicherungsbeiträgen konfrontiert und machte den Gesamtbetrag in Höhe von ca EUR 338 gegenüber Air Baltic als Schadenersatzforderung geltend. Da sich die Airline weigerte, diesen Betrag zu ersetzen, erhob der Sonderermittlungsdienst Klage beim Ersten Bezirksgericht der Stadt Vilnius.
Nachdem Air Baltic erstinstanzlich zum Ersatz der Mehrkosten verurteilt wurde, erhob diese Berufung beim Regionalgericht Vilnius. Dieses bestätigte das Urteil, wogegen das Luftfahrtunternehmen Kassationsbeschwerde beim Obersten Gerichtshof Litauens einbrachte. Die Airline argumentierte, dass sich der STT als juristische Person nicht auf die Haftung des Luftfrachtführers gemäß Art 19 MÜ berufen könne. Diese Haftung bestünde nur gegenüber Reisenden selbst, nicht gegenüber anderen Personen. Dies schon gar nicht, wenn diese juristische Personen und damit keine Verbraucher seien. Der STT argumentierte dahingegen, dass Art 19 MÜ gegenüber einer Person gelte, die einerseits einen Beförderungsvertrag für Reisende geschlossen habe und andererseits durch deren Verspätung einen Schaden erlitten habe. Der Oberste Gerichtshof Litauen setzte in der Folge das Verfahren aus und legte die Rechtssache dem EuGH vor.
Der Europäische Gerichtshof hielt in der Folge fest, das Art 19 MÜ regelt, dass den Luftfrachtführer die Verpflichtung trifft, jeden „Schaden zu ersetzen, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck oder Gütern entsteht„. Damit erfolge keine Einschränkung auf die Person, welcher ein solcher Schaden entstehen könne. Auch wenn das Übereinkommen nicht ausdrücklich die Haftung gegenüber einem Arbeitgeber wie im vorliegenden Fall vorsehe, lasse sich jedoch auch keine Einschränkung aus dem Text des MÜ entnehmen, der den Schaden nur auf jenen, den der Reisende selbst erleidet, einschränke. Der Gerichtshof verweist dabei zwar zutreffend auf das wesentliche Ziel des Abkommens hinsichtlich dem Schutz der Verbraucherinteressen (Abs 3 Präambel MÜ), ein zwingendes Zusammenfallen des Verbraucherbegriffes mit jenem des „Reisenden“ wird darin vom EuGH jedoch nicht gesehen.
Der Schadenersatzanspruch sei aber durch die Beschränkung gemäß Art 22 MÜ auf die Haftung „je Reisenden“ derart eingeschränkt, dass einem Kläger, welcher selbst nicht Reisender ist, kein höherer Ersatz zuzusprechen ist, als eine Multiplikation der in Art 22 Abs 1 MÜ festgelegten Höchstgrenze mit der Anzahl der Reisenden, die aufgrund des zugrundeliegenden Vertrages mit dem Luftfrachtführer befördert wurden, ergibt. Damit sei ein gerechter Ausgleich der Interessen sichergestellt, da unabhängig davon, ob der Reisende selbst oder, wie im vorliegenden Fall, eine andere Person einen Schadenersatzanspruch geltend mache, die gleichen Haftungshöchstgrenzen zur Anwendung kämen.
Auch wenn die Auslegung des Montrealer Übereinkommens durch den EuGH schlüssig und nachvollziehbar ist, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass mit dieser Ausweitung der Aktivlegitimation bzw des Kreises der schadenersatzberechtigten Personen ein potentielles Pulverfass gezündet wurde. Während nämlich die Fluggastrechte-Verordnung (261/2004/EG) die jeweiligen Ersatzansprüche ausdrücklich (nur) den Fluggästen einräumt, wird im Montrealer Übereinkommen lediglich die Stärkung der Verbraucherinteressen als klares Ziel festgelegt. Da Verspätungsschäden nunmehr ausdrücklich auch von Arbeitgebern geltend gemacht werden können, sofern diese Vertragspartei des Beförderungsvertrages sind (sprich, sofern diese das jeweilige Ticket buchen), könnte damit ein Trend gestartet werden, dass Arbeitgeber in Zukunft generell die Beförderungsverträge selbst schließen, um allfällige Schadenersatzansprüche im Verspätungsfall geltend zu machen.
Während Dienstnehmer bis dato im Rahmen von Dienstreisen ihre Rechte entweder gar nicht geltend machten oder die durch die Fluggastrechte-Verordnung zustehenden Ansprüche als „Goodie“ einer Dienstreise betrachten konnten, könnte sich in Hinkunft die Praxis etablieren, dass Arbeitgeber diese Ansprüche selbst verwerten. Weiters darf nicht vergessen werden, dass – während die Verordnung in den meisten Fällen neben dem Unkostenersatz einen pauschalen Schadenersatz von bis zu EUR 600 vorsieht – die Haftungshöchstgrenze laut MÜ bei 4150 Sonderziehungsrechten (derzeit ca EUR 5.000) liegt. Bei Dienstreisen von mehreren Mitarbeitern drohen hier sohin potentiell empfindliche Schadenersatzpflichten. Den Fluglinien würde im Gegenzug dabei nicht einmal die Möglichkeit zustehen, dieses erhöhte Ersatzrisiko vertraglich zu beschränken, da gemäß Art 26 MÜ ein Ausschluss oder eine Reduktion der vorgesehenen Haftung ausdrücklich unwirksam ist.
Weiterführende Links:
Entscheidung C-429/14 vom 17. Februar 2016 (Link)
Die Presse vom 18. Februar 2016 (Link)